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„Eigentlich studiere ich BWL…“

Es ist kalt an diesem Abend in Berlin. Der lange „vermisste“ Winter ist nun doch mit voller Wucht angekommen und treibt die letzten Umherirrenden in ihre Häuser. Während es draußen dunkel wird, geht in den Bars das Leben erst los – oder eben in einer Table-Dance-Bar. Schon allein die matt rote Beleuchtung wirkt anziehend in diesem Meer der Schatten, dass nur durch die allzu künstlich wirkenden Lichter von Autos und Straßenlaternen durchbrochen wird. Eine leicht bekleidete Dame begrüßt übertrieben freundlich. Der Türsteher scheint das Gegenteil zu tun, seine Stimme geht aber im Lärm der wieder einsetzenden Musik unter. Sekunden später wird der Lautstärkepegel durch extremes Johlen und Gröhlen aus diversen Männerkehlen noch erhöht.

Typische Table-Dance-Szene. Foto: David Shankbone

Typische Table-Dance-Szene. Foto: David Shankbone

Soeben hat die erste Tänzerin ihre Arbeit aufgenommen. Lasziv räkelt sie sich an der auf der Theke anmontierten Stange. Niemand würde angesichts der vollführten Eleganz auf eine Amateurin tippen. Das Publikum ist zufrieden. In ihrer Pause gewährt sie uns ein paar Fragen. Alexandra ist 22 und tanzt seit fast zwei Jahren. Nicht weil sie sich dazu berufen fühlt, sondern weil sie das Geld gut gebrauchen kann. Bildung ist ein wertvolles Gut, aber für manche ohne Nebenjob unerschwinglich. „Eigentlich studiere ich BWL“, verrät sie mir. Durch Bekannte stieß sie auf die Annonce der Bar, seitdem ist sie an jedem Mittwoch und Samstag dort. Immerhin nimmt ihre Tätigkeit weniger Zeit in Anspruch als andere Arbeiten. Der unsympathische Türsteher läuft vorbei und nimmt ihr ein Bündel Geldscheine aus dem Höschen. Für Alexandra ist das normal, in diesem Job darf man sich nicht genieren. Auch nicht, wenn mancher Gast allzu sehr von ihrem Körper fasziniert scheint. In der Zwischenzeit unterhält ihre Kollegin, ebenfalls Studentin, schon übermäßig lange die an diesem Abend zahlreichen Besucher. Alexandra springt wieder ein. Immer wieder werfen männliche Passanten einen neugierigen Blick von draußen durch das Fenster. Die meisten treten schließlich ein, nur die mit weiblicher Begleitung werden weiter gezerrt.

Abgesehen von den erotischen Einlagen gleicht alles einer normalen, zugegeben eher billigen Bar, der Geruch von Zigaretten und Bier ist hier ebenso allgegenwärtig. Das restliche Wochenende wird die Studentin für Hausarbeiten und Referate nutzen. Und zum Ausschlafen. Alexandra hat noch einige Abende vor sich. Zumindest, bis sie ihren Abschluss hat…

Daniel

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Ich lauf‘ mir ’nen Wolf

Wir scheuen keine Nässe, denn wir wandern im strömenden Regen, stundenlang. Wir fürchten keine Kälte, denn wir schlafen in Zelten bei Temperaturen um Null Grad. Wir lieben diese Freiheit, denn wir sind draußen zu Hause. Jack Wolfskin.

"Jack Wolfskin" Markenzeichen und Signet. Bilder(3): www.jack-wolfskin.de

"Jack Wolfskin" Markenzeichen und Signet.

So, oder so ähnlich würde ich unser „Brand Commitment“ beschreiben. Zu moderner Markenführung gehört seit einer Weile neben dem typischen Instrumentarium des Marketings auch das „Personnel“, also die Schulung und Kompetenzeinbindung der Mitarbeiter, die eine Marke zum Kunden hin vertreten. Das Commitment wird hier übersetzt mit der Hingabe, der Verpflichtung oder dem Bekenntnis zur Marke. Je kompetenter und überzeugter ich eine Marke vertrete, umso wahrscheinlicher überzeuge ich die Kunden von der versprochenen Qualität.

So praktisch lassen sich theoretisch erlernte Studieninhalte mit der Praxis erklären. Ob das auch so ankommt, ist natürlich von Fall zu Fall verschieden. Ich arbeite nun schon seit Februar 2010 in einem der deutschlandweit 213 direkten Jack Wolfskin Stores. Die Eigenmarke wurde 1981 durch den Hanauer Ulrich Dausien und seiner Firma Sine ins Leben gerufen. Als die Etablierung zur vollen Zufriedenheit fortschritt, wurde diese von der Firma eigenständig gemacht, um sie als starke Marke allein auftreten lassen zu können. Ab 1991 wechselten die Eigentümer mehrere Male, mit jedem Weiterverkauf steigerte sich der Verkaufspreis immens. Als 1993 mit dem ersten offiziellen Store in Heidelberg der Weg für eigene Markenläden geebnet war, erlebte die Marke innerhalb Deutschlands (zumindest wirkt es aus heutiger Sicht so) mehr und mehr ihren kommerziellen Durchbruch.

Der Store, in dem ich arbeite, ist Teil eines Einkaufszentrums. Diese Tatsache ist, abhängig vom Wochentag, bedeutend für das Kundenaufgebot. Da sich die Arbeitszeiten für Studenten typischerweise um die Wochenenden einordnen, kann

Promotionbilder der Winterkollektion 2011. Bilder (3): www.jack-wolfskin.de

Promotionbilder der Winterkollektion 2011.

ich mich zwischen Donnerstag und Samstag immer auf rege Kaufmotivation einstellen. Das gilt generell im Einzelhandel. Wenn ich um diese Zeit den Laden betrete, tummeln sich darin durchschnittlich sechs bis zehn Kunden. Ich entledige mich meiner (wetterfesten) Bekleidung, laufe zügig an den Jacken- und Fleeceständern vorbei, passiere den ladeneigenen Mini-Parkour zum Testen unserer Schuhtypen, streife von der Decke baumelnde Isolationsschlafsäcke und gelange durch eine Tür ins Lager. Hier angekommen, drehe ich mich einmal halb um meine Achse, schalte die Kaffeemaschine an, nehme Kaffee-Pad und Tasse aus dem Regal und stelle alles an seinen zugehörigen Platz. Soviel Zeit muss sein. Verglichen mit den gut 100 Quadratmetern Storefläche wirkt das Lager wie ein schmaler Schlauch. Die Wandregale sind bis obenhin voll gestapelt mit Schuhkartons, im hinteren Teil hängen auf verstärkten Streben die Vorräte an Wetterjacken aller Art. Momentan ist das Lager leer, die Saison neigt sich dem Ende zu, Rabattschlachten sind angesagt, auch hier.

Mit dem gemachten Kaffee geht es zurück durch den Laden. Freundlich werden alle durch meinen Blick erreichbaren Gesichter begrüßt. Ich ernte ein freundliches Lächeln einer jungen Dame hier, das teilnahmslose Nicken eines Endfünfzigers dort. Wie wir halt tendenziell so sind, wir Deutschen. Das Wissen um die Zielgruppe ist bei Jack Wolfskin, abhängig von der Region des Stores, oft der Schlüssel zum Erfolg. Der langtourig Wandernde, der Auf-sich-allein-Gestellte, der alpine Bergwanderer, die wasserresistente Campingfamilie, die Nachkommen von Chuck Norris, alternative Mütter mit ihren Kindern, welche Waldkindergärten besuchen, und meine Lieblinge, die wahren Jacks von Wolfskin. Sie alle eint der Gedanke, für länger geplante Vorhaben an der frischen Luft robuste, wasserdichte, oder auch atmungsaktive Materialien zu erstehen. Mit dem Großteil der Kunden bin  ich schnell beim ‚Du‘, wir reden über Expeditionen und Kurztrips, ich höre mir Farb- und Funktionswünsche an, wir vergleichen, probieren an, vergleichen wieder. Ich bin immer bestrebt, meine Meinung über die probierte Bekleidung abzugeben, nicht selten müssen wir etwas über den Online-Versand in den Store bestellen. Selten bleibt es nur bei der Jacke. Dann sollen noch  die passenden Schuhe dazu her. Welche Lederaufarbeitung es sein darf, wie das Profil beschaffen sein muss, was die Membran aushalten soll, und unter welchen Bedingungen wird der Schuh zum Einsatz kommen wird. Die typischen Fragen. Alsbald gesellen sich Familienmitglieder dazu, auch andere Kunden klinken sich mit ein. Es ist diese intensive, jedoch ungezwungene Betreuung, die diesen Nebenjob von anderen im Einzelhandel unterschiedet. „Brand Commitment“ eben. Das bindet die Kunden. Ich treffe sie oft wieder oder es wird am Telefon nach mir gefragt und der Store wird den Verwandten empfohlen. Ein schickes Gefühl, Stress ist gleichwohl vorprogrammiert. Wer eher schüchtern, wortkarg, oder sogar menschenscheu ist, wird hier keinen Spaß finden. Wollen mehr als drei Kundenpaare eine konkrete Auskunft, gerne auch auf Englisch, Französisch oder Spanisch, kann die Übersicht schonmal verloren gehen. Es ist wichtig, dass ich immer ein halbes Ohr

Wachsender Bereich des Unternehmens: Jack Wolfskin Family. Fotos (3): www.jack-wolfskin.de

Wachsender Bereich des Unternehmens: Jack Wolfskin Family. Fotos (3): http://www.jack-wolfskin.de

für die Kunden habe, ohne den anderen Kundenwunsch zu vergessen. Der Überblick über Namen und Funktionen der einzelnen Saisonprodukte gehört dazu, dies alles in sich aufzusaugen, dauert hingegen eine gewisse Zeit. Auf die Schulungen legt unser Store wert. Teamsitzungen nach Feierabend (20 Uhr) gehören wenigstens einmal im Monat dazu, regelmäßig schaut der Area-Manager für Berlin / Brandenburg vorbei. Wir unterhalten uns über Neuerungen, diskutieren Kundenbemerkungen und Anreize und werden instruiert über Membranen, Isolationsmaterialien, Stofftypen und Trägersysteme. Wer einfach nur Jacken verkaufen möchte, geht woanders hin.

Die zunehmende Kommerzialisierung der Marke erweiterte den Kundenstamm von wirklichen Trekkern und Hikern auf den Otto-Normal-Verbraucher. Dieser Trend ist in der Expansion der Marke natürlich zu begrüßen, reduziert jedoch den Gehalt von Kundengesprächen. Otto sucht dann lediglich eine „Jacke gegen Regen“ und Schuhe zum Wandern im heimischen Wald. Wasserabweisend und wasserdicht sind dann schnell mal das Gleiche, Hauptsache ist, dass man in der Jacke nicht schwitzt. Es liegt in meinem Feingefühl für den Charakter des Kunden, ob ich ihm die Unterschiede und Bedingungen erkläre oder nicht. Oft gehört das Gespräch zu Reinigung und Imprägnierung bei Kaufwunsch der Bekleidung schon zum Höchsten der Gefühle. Es gibt dann noch die Kandidaten, die mir erklären wollen, wie unsere Produkte funktionieren, sich darüber auslassen, warum wir für „Fernost-Ware“ dennoch unzumutbare Preise verlangen, oder weshalb die Logos in solch stechendem Gelb gestickt sind, da sich dass doch niemand ansehen könne, ohne sofort Augenkrebs zu bekommen. Gekauft wird trotzdem. Und da der Kunde König ist, bekommt bei mir jeder das Produkt, das er oder sie sich wünscht.

Ordnung und Sauberkeit gehören zum Feierabend ebenfalls zu den glorreichen Aufgaben. Einer macht die Mülltour ins Untergeschoss, der andere swiffert durch den Store. Auch die Verantwortung des Auszählens der Kasse gehört abends uns Studenten. Der Dienst läuft meistens in Schichten um die fünf Stunden, manchmal auch acht, selten einen ganzen Ladentag lang mit zehn Stunden. In regelmäßigen Abständen, meist zum Wechsel der Kollektionen, dürfen wir uns auch kreativ ins Konzept des Stores einbringen, bauen um und gestalten neu. Da alle Jack Wolfskin Stores in einem Franchise-System organisiert sind, gibt es zwischen meinem Bericht hier und anderen sicherlich Abweichungen. Wir hier haben alle einen persönlichen Draht zu einander und genießen zwei Mal im Jahr einen Erlebnisausflug mit der Chef-Etage als Dank für die Zusammenarbeit, beispielsweise im Kletterpark oder in einem Kanu auf dem Wasser. Wer Vergnügen daran hat, mit spezielleren Kundinnen und Kunden auf spezifischen Kleidungsfang zu gehen, und einen trotzdem überschaubar routinierten Arbeitsalltag zum Studium sucht, ist hier gut aufgehoben. Mitgift ist die Bereitschaft, sich fachbezogen schulen zu lassen und den Samstag als Werktag zu akzeptieren. Geboten wird ein Arbeitsumfeld mit lockerer Atmosphäre und Wertschätzung.

Denis

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Fall nicht so tief, mein kleiner Freund!

Sie fangen all diejenigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf, die durch das gesellschaftliche Raster von Vater Staat hindurch gefallen sind und haben immer ein offenes Ohr für deren Ängste und Sorgen. Sie bieten ihnen Unterstützung und Rückhalt in allen möglichen Lebenslagen, damit der steinige Weg heraus aus Hoffnungslosigkeit, Drogenmissbrauch und Kriminalität zurück in die Legalität gelingt. Sie müssen über Psychologie, Medizin und Recht sehr gut Bescheid wissen, damit sie ihre Zielgruppe bestmöglich beraten können. Sie sind gewissermaßen ‚Mädchen für alles‘. Die Streetworker (zu deutsch: Straßensozialarbeiter) üben einen sehr intensiven und abwechslungsreichen Beruf aus, bei dem es vor allem auf eines ankommt: eine gewisse Nähe zu den Jugendlichen und jungen Erwachsenen aufzubauen. Nur so können die Straßensozialarbeiter positiv auf sie einwirken.

Tilmann mit seinen beiden Hündinnen

Das weiß auch der 41-jährige Tilmann, der nun seit knapp neun Jahren in Marzahn-Hellersdorf als Straßensozialarbeiter für Gangway e.V. unterwegs ist. Dabei hatte der gebürtige Mittelfranke in seinem Leben zunächst wenig mit sozialer Arbeit zu tun. Nach dem Abitur nämlich versuchte er sich an einem Maschinenbau-Studium. „Ich merkte aber relativ schnell, dass das nichts für mich war, zu komplex und trocken.“ Er sattelte um und entschied sich für den Diplom-Studiengang Soziale Arbeit an einer staatlichen Universität in München. In diesem Studiengang lernte er in kurzer Zeit alles, was in irgendeiner Form für die spätere Berufstätigkeit relevant sein könnte im Bezug auf die menschliche Psyche, die Humanmedizin und Recht und Gesetz.

Spezialisiert hatte er sich während des Studiums auf die Suchtarbeit, weil er sich besonders dafür interessierte. So kam es nicht von ungefähr, dass er nach Abschluss seines Studiums in der Drogenhilfeeinrichtung einen Job annahm, in der er bereits ein einjähriges Praktikum absolviert hatte. Schon bald wurde er ermuntert, die Leitung des Adaptionshauses zu übernehmen, eine große Herausforderung für den Neuling. “Als sich die Arbeitszeit auf 60-80 Stunden in der Woche hochschraubte merkte ich jedoch, dass ich dafür noch nicht bereit war. Das war mir zuviel Arbeit und zuwenig Leben.” Also entschloss er, zu kündigen, arbeitete aber noch seinen Nachfolger ein, bevor er ging. Danach nahm er sich erstmal eine längere Auszeit, um sich zu erholen und um sich Gedanken über seine Zukunft zu machen. Er kam nach Berlin und jobbte zunächst in einer Drogenberatungsstelle. Doch das befriedigte ihn auf Dauer nicht. „Mir wurde klar, dass ich kein Bürohengst sein kann. Das ist einfach nicht mein Ding. Ich wollte direkt zu den Leuten gehen und mir ein Bild davon machen, wo und wie sie leben.“ Daher erkundigte er sich über Streetwork und fand in ihr, wonach er suchte: spannende, vielseitige und direkte Arbeit mit jungen Menschen verschiedenster Kulturkreise und deren Problemen. Er bewarb sich deshalb bei Gangway e.V., welcher seit der Gründung 1990 von Bezirk und Senat gefördert wird und heute der größte Träger von Straßensozialarbeit Deutschlands ist.

(Quelle: gangway.de) von rechts: Tilmann, Sindy, Uwe

Zu Tilmanns Aufgabenbereich gehört unter anderem die Beratung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, sei es wegen mehrfachen Drogenmissbrauchs, Gesetzesbruch oder Verschuldung. Er bietet Hilfe in so ziemlich allen Lebenslagen. Um seine Hilfe jedoch anbieten zu können, klappert er mit seinem Marzahner Team, bestehend aus seinem Kollegen Uwe und der Kollegin Sindy, regelmäßig mit dem Fahrrad oder zu Fuß die Gegenden ab, an denen sich die Jugendlichen für gewöhnlich treffen. Trotz seines fortgeschrittenen Alters kann er zu den Teenies und den jungen Erwachsenen sehr schnell eine Beziehungsebene aufbauen. „Ich begegne ihnen auch nicht wie ein gewöhnlicher Erwachsener, sondern auf Augenhöhe.“ Das äußert sich beispielsweise darin, dass er erst einmal niemanden verurteilt und in Schubladen packt, egal ob jemand frauenverachtenden ‚Porno-Rap‘ hört, rechtem Gedankengut verfallen ist, regelmäßig Drogen konsumiert oder einiges auf dem Kerbholz hat. Er versucht die Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu verstehen und baut zu ihnen eine Vertrauensbeziehung auf. „Erst nach einer Weile kann ich Einfluss auf sie nehmen und unangenehme Themen ansprechen, mit ihnen über ihr Verhalten diskutieren und positiv auf sie einwirken“, begründet er das sensible Vorgehen. Manche vertrauen ihm ihre Probleme relativ schnell an, das mache es oftmals etwas leichter, sagt er.
Auch die zahlreichen Projekte, die Gangway aktuell anbietet, sollen den Jugendlichen und jungen Erwachsenen den Anreiz geben, einen neuen Lebensweg zu beschreiten, ihre Fähigkeiten auszubauen und für Sinnvolles zu nutzen. So zum Beispiel durch Projekte wie ‚Gangway Beatz‘, wo sie mithilfe des aus der Bronx stammenden Produzenten Olad Aden an gemeinsamen Rap- und Hip-Hop-Tracks basteln, die weniger hart und aggressiv, dafür aber gesellschaftskritisch sind und eine klare Message haben. Das Genre agiert hier als Sprachrohr und Pranger für alles, was die Jugend stört. „Das lockt automatisch viele Jugendliche an, die sich hier gerne beweisen wollen und mit anderen vergleichen oder zusammenarbeiten möchten“, fügt er hinzu. Er selbst verschreibt sich jedoch mehr dem Punk Rock und hat deshalb vor sieben Jahren erstmalig Jugendliche kontaktiert, die kurz darauf das erste ‚Resist to exist‘-Festival organisierten. Das Festival ist im Laufe der Jahre stetig angewachsen und wird mittlerweile von den jungen Menschen über einen eigenen Verein organisiert. Durch sein jahrelanges Engagement wird Tilmann sehr akzeptiert innerhalb der Szene. „Aber ich dränge mich ihnen nicht auf. Wenn sie was von mir wollen, müssen sie auf mich zukommen.“ Und so wenden sich selbst die oft sehr misstrauischen Punks an ihn mit ihren Fragen und Problemen.
Genau dieser Zugang und diese Nähe zu den vermeintlichen ‚Problemfällen‘ unserer Gesellschaft ist das, was die sozialen Einrichtungen seiner Meinung nach nur selten aufbauen können, weil sie zu bürokratisch agieren und Hilfe oft nur unter Bedingungen anbieten. „Bei uns gibt es für jeden direkte Hilfe ohne endloses Nachfragen. Wir lehnen auch niemanden ab, nur weil er/sie ein oder zwei Mal während des Drogenentzugs rückfällig geworden ist.“ Jeder habe in seinen Augen eine zweite, dritte und auch vierte Chance verdient. Die Initiative, sich zu ändern, müsse immer von der Person selbst kommen. Aber wenn die Ämter den Jugendlichen nicht weiterhelfen können oder wollen, dann kommen die Streetworker ins Spiel und treten für die Interessen ihrer Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit viel Nachdruck und Hartnäckigkeit ein. „Wir machen den Ämtern das Leben nicht leicht“, bestätigt Tilmann grinsend. Generell käme die Unterstützung der Straßensozialarbeiter bei der Bewältigung von Problemen aber gut an, weil sie Missstände und Lücken in der behördlichen Arbeit oft schneller beheben könnten.

Die Protestaktion des Team Marzahn

Doch das scheinen der neue Senat und die neue Bezirksverwaltung etwas anders zu sehen. Mit der Wahl Ende des vergangenen Jahres hat sich einiges geändert. Ein großer Teil der Fördergelder, auf die Gangway so sehr angewiesen ist, fiel dem Rotstift des Jugendamts zum Opfer.
Ganze 12,5% weniger Geld bedeuten einen enormen Einschnitt in das künftige Angebot. Auch die Proteste gegen die Kürzungen blieben unbeachtet und erfolglos. Zukünftig wird wohl manches Projekt auf der Strecke bleiben. „Wir waren bereits vor dieser Kürzung knapp bei Kasse und auf Spenden und Sponsoring angewiesen. Die Degewo zum Beispiel sponsert uns das Büro“, erzählt Tilmann. Die Kürzung habe jedoch noch weitreichendere Folgen. Auch die reguläre Arbeit würde dadurch stark behindert, weil viel kostbare Arbeitszeit der Akquise neuer Gelder zum Opfer fiele und dadurch weniger Zeit für die eigentliche Arbeit bliebe. Nicht nur Tilmann ist ob des Vorgehens ratlos: „Ohne überhaupt miteinander gesprochen zu haben, werden Entscheidungen getroffen, die unsere Arbeit nicht nur beeinträchtigen, sondern die jahrelange Arbeit aller Träger in Frage stellen“, erklärt er.
Dabei bekommen die Streetworker immer wieder positive Rückmeldungen von Leuten, die mithilfe ihrer Unterstützung den Absprung geschafft haben und nun ein geordnetes Leben fernab von Drogen und Kriminalität führen. Die Straßensozialarbeiter leisten einen beträchtlichen Beitrag für unsere Gesellschaft und den Sozialstaat, auf den unser Land so stolz ist und der es zu einem der wohlhabendsten und ausgeglichensten Ländern der Welt gemacht hat. Die Straßensozialarbeit ist unverzichtbar und wird trotz des demografischen Wandels weiterhin diese gewichtige Rolle ausfüllen. Es ist essentiell für eine funktionierende Gesellschaft, dass den Benachteiligten und weniger Privilegierten unserer Gemeinschaft geholfen wird und damit soziale Gerechtigkeit und Gleichheit in die Tat umgesetzt werden.
Wer sich gerne für die Gesellschaft engagieren würde und interessiert ist am Beruf des Streetworkers, der kann sich hier über die Voraussetzungen informieren, die an einen Straßensozialarbeiter gestellt werden.
Text: Marcel

„Genieße den Schmerz“

„Und halten – halten –  halten und ab.“ Als ich in die Physiotherapiepraxis Markt Eins GmbH in Spandau komme, zeigt sich mir ein seltsames Bild: Physiotherapeutin Anne kniet auf einer blauen Matte am Boden, vor ihr ein junger Mann in der gleichen Stellung. „Komm ruhig her“, ruft Anne mir zu, „wir haben schon einmal ohne dich angefangen.“ Anne, in rosa Plüschsocken, einem schwarzen Trainingsanzug und einem dicken, türkisen Schal, turnt die Übungen für den jungen Patienten vor. Die dunklen Haare sind im Nacken zusammengebunden, die Hände kräftig, das Gesicht geprägt von einem dezenten Nasenpiercing und leicht geschminkten Augen. Im Vierfüßlerstand knien die beiden

Da Anne heute nur Geradeaus schauen kann, trainiert sie ausnahmsweise nicht parallel zum Patienten.

Da Anne heute nur geradeaus schauen kann, trainiert sie ausnahmsweise nicht parallel zum Patienten.

vor mir. Jetzt gehen die Knie hoch, die Füße gehen langsam nach hinten, bis der Körper fast gestreckt ist und wieder nach vorn. Annes Schal verbirgt ihren schiefen Hals, sie hat ihn sich am Montag verknackst und kann den Kopf deshalb nicht drehen, für die 23-Jährige noch lange kein Grund, nicht zu arbeiten. Trotz des steifen Halses ist sie nie um einen Spruch verlegen. „Hier riecht es nach Keksen“, meint sie mitten in der Übung. „Ich war gerade bei Burger King“, gibt der 17-jährige Patient zu. „Gibt es denn da Kekse? – Na ist auch egal. Kein Wunder, dass du so schnell schlapp machst.“ Ohne Probleme macht sie jede Übung mit. Der Patient hatte nach einem Fußballspiel starke Rückenschmerzen. Anne: „Meine Tests haben daraufhin ergeben, dass er ein ganz schöner Schwächling ist.“ Deshalb machen sie nun Bauch- und Rückenübungen. „Und noch einmal“. – Der Patient atmet geräuschvoll aus. – „Weil es so schön war“, grinst Anne. „Genieße den Schmerz.“ Nach der Bauchübung geht es auf den Rücken. Auf Unterarme und Fersen gestützt, wird sich über die Fußbewegung vor und zurück gerollt – Annes Lieblingsübung. Der Oberkörper des Patienten beginnt zu zittern, Anne hat noch Zeit zu lachen. „Und immer lächeln, dann fällt es gleich viel leichter.“ Der junge Mann will nach der Sitzung gleich noch ins Fitnessstudio. „Und was machst du da?“, will Anne wissen, „bestimmt nur Oberkörper“.

Auch der Rücken will trainiert sein.

Auch der Rücken will trainiert sein.

-“Bankdrücken“, bestätigt der junge Mann. „Was sag ich?“ Anne lacht. „Ich kenn euch doch, Frauen verbringen stattdessen Stunden auf dem Stepper und bauen Null Muskulatur auf – auch idiotisch. Zum Abschied gibt es deshalb gleich noch ein paar Tipps für Hantelübungen für den Rücken. Zwanzig Minuten dauert eine normale Behandlung.
Anne ist seit sechs Monaten fertig mit der Ausbildung. Zur Physiotherapie fand sie wie manch ein Patient: über den Leistungssport. Seit ihrem neunten Lebensjahr in der Leichtathletik aktiv, bekam sie mit 13 erstmalig gesundheitliche Probleme und landete beim Physiotherapeuten. Der Beruf faszinierte sie sofort und mit 14, nach einem Praktikum, stand ihr Berufswunsch fest. In Deutschland kann man die dreijährige schulische Ausbildung an einer staatlichen oder privaten Schule absolvieren. Sie entschied sich aus Kostengründen für eine staatliche Schule in Thüringen. „Das Problem nach der Ausbildung ist, dass man fast nicht auf dem Arbeitsmarkt überlebensfähig ist“, erzählt sie, „es fehlen noch zwei Lehrgänge“. Manuelle Lymphdrainage und Manuelle Therapie würden in der Ausbildung kaum gelehrt und müssten in teuren Lehrgängen selbst erarbeitet werden. Dass sie, ohne die Lehrgänge zu absolvieren, trotzdem in der Spandauer Praxis gelandet ist, ist aber nicht nur Glück. Ihre Ausbildung bestand sie mit der Note 1,1. Im März fängt dann für sie der Lehrgang Manuelle Therapie an. Über drei Jahre wird sie an Wochenendlehrgängen für 3500 Euro alles lernen, was ein fertiger Physiotherapeut darüber wissen muss.
Die nächste Patientin hat ein durch Arthrose bedingtes Problem mit der Halswirbelsäule. Die etwa 60-jährige Rentnerin darf ihre Physiotherapie passiv genießen. Nacken und Hals werden massiert und gestreckt. „Bei Arthrose werden die Muskeln anders beansprucht und sind verspannt“, erklärt Anne. Die Verspannungen könne sie wegmassieren, die Arthrose nicht. „Ich kann ja nicht zaubern.“ Man könne hier nur lindern.
Angepasst für jeden Patienten hat Anne ein Gesprächsthema parat. Auch ihr Umgang schwenkt

Vor allem die Massagen belasten die Finger der Physiotherapeuten.

Vor allem die Massagen belasten die Finger der Physiotherapeuten.

mühelos um vom 17-Jährigen, den man ein bisschen foppen kann, zur 60-Jährigen, die über ihre Freunde und ihren Mann erzählen will. „Glücklicherweise bin ich ja noch jung und kann mir alle Themen merken“, meint sie dazu, „sonst wäre es schon peinlich, wenn man auf einmal mit etwas anfängt und der Patient weiß gar nicht, wovon man spricht“. Gerade das macht ihr aber an dem Beruf Spaß: „Hier ist Menschlichkeit gefordert, ich muss mich auf jeden neu einstellen.“
Ihre jüngste Patientin ist gerade fünf Jahre alt und auch nach oben ist das Alter offen, jeder will anders behandelt werden. „Ich finde die Arbeit bereichernd“, erklärt Anne. Dabei kommt sie mit 1000 Euro Netto im Monat nicht unbedingt reich von der Arbeit nach Hause. Allerdings muss sie auch nur 35 Stunden arbeiten. Sie kenne allerdings niemanden, der in diesem Beruf 40 Stunden die Woche arbeite. „Das hältst du einfach nicht aus“, meint sie, „dafür ist es zu anstrengend“. Denn körperlich geht es in dem Beruf an die Grenzen: Probleme mit Fingern und Händen, Schultern und der Wirbelsäule sind bei so vielen Massagen vorprogrammiert. Im Krankenhaus müssen Physiotherapeuten weniger massieren, dafür meist mehr heben. Bandscheibenvorfälle seien unter ihnen ganz normal, meint Anne.
Wer Physiotherapeut werden möchte, sollte es sich deshalb genau überlegen. Zumal die Ausbildung (Zitat Anne:) “saumäßig anstrengend und anspruchsvoll“ ist. In teilweise 45 Wochenstunden Unterricht lernt der angehende Physiotherapeut Anatomie wie ein Mediziner und hört Arztvorlesungen über alle möglichen Krankheitsbilder, die er nachher zu behandeln lernt. „Manchmal denke ich, wir sind manchem Arzt an Wissen deutlich überlegen“, meint Anne. Dann hat sich die Ausbildung doch gelohnt. Außerdem sagt sie: „Es ist ein schöner Beruf. Und – was man auch nicht vergessen darf: Es gibt einen Haufen Trinkgeld und viele Süßigkeiten – wenn man nett ist.“ Da habe ich bei Anne keine Bedenken.

Foto und Text: Kirsten

Geschaffen, um zu pflegen

Morgens, viertel nach sechs in Steglitz. Eine kleine, anderthalbstündige Weltreise aus den östlichen Gefilden Berlins liegt hinter mir. So früh an einem Freitagmorgen aus den Federn gerissen zu werden, ist nicht jedermanns Sache. Meine ist sie allemal nicht. Auch das Wetter zeigt sich von seiner erbarmungslosen Seite. Es stürmt orkanartig und dazu gesellen sich viele eisige Regentropfen, die sich wie kleine Nadelstiche in meinem Gesicht anfühlen. Gespannt warte ich vor dem Eingang West des Charité Campus Benjamin Franklin auf meinen Kumpel und Krankenpfleger Michael Grochulla. Ihn werde ich während seiner Frühschicht bei seiner Arbeit begleiten.

Eingang des Campus bei Tageslicht

Glücklicherweise hat das Warten schnell ein Ende und Micha führt mich durch den in der Dunkelheit gespenstisch wirkenden Krankenhauspark mit den haushohen, kahlen Bäumen zum Eingang des Campus. Der 25 Jahre junge Mann stammt ursprünglich aus Dipbach in Bayern, er begann die Ausbildung am Campus vor knapp fünf Jahren. Mittlerweile gehört der knapp 1,80 m große, sehr schlanke, junge Mann mit kurzrasiertem, dunkelbraunem Haar und lässigem Dreitagebart zum festen Stamm der Pflegerschaft seiner Station.

6:30 Uhr auf der Station

Gemeinsam nehmen wir den Aufzug hoch in den fünften Stock in die Station 10a, die Nephrologie. Abgeleitet vom griechischen Wort nephros kümmert sich diese Station um Patienten mit akuten oder chronischen Nierenproblemen, die hauptsächlich bei Menschen älteren Jahrgangs auftreten. Wir betreten die Station und ich bin überrascht, dass es so ruhig ist. Kein Mensch auf weiter (Krankenhaus-)Flur (siehe Foto).

Die Visite mit dem Überprüfen der Vitalzeichen beginnt erst um 7 Uhr. Also dürfen die Patienten noch ein Weilchen träumen und schlummern. So bleibt auch für uns noch etwas Zeit, um sich mit den Krankenschwestern zu unterhalten. Es wird sehr viel gelacht, das Arbeitsklima scheint ausgesprochen gut zu sein. Man gönnt sich schnell noch einen Kaffee oder pafft im eisigen Wind draußen auf dem schmalen Balkon zügig einen Glimmstängel.

Kurz vor sieben. Die Belegschaft der Nachtschicht übergibt symbolisch den Staffelstab an die Frühschicht. Ehe die Stationsärztin jedoch ihren Kittel vorübergehend an den Nagel hängen kann, muss sie noch mit Micha und den beiden Krankenschwestern den momentanen Krankheitszustand der einzelnen Patienten anhand einer Liste durchsprechen. Sie erklärt, was am Abend bzw. in der Nacht getan wurde, worauf er besonders achten muss und welche Medikation für den jeweiligen Patienten vorgesehen ist.
Nach dem Gespräch eilt der gebürtige Bayer in den Medikamentenraum, um genau mit den Patientenakten abzugleichen, ob sich in den Tabletten-Dispensern der einzelnen Patienten für morgens, mittags und abends die richtigen Tabletten in der richtigen Dosis befinden.

Alle Medikamente der Station für einen Tag

Da in manchen der Dispensern eine oder mehrere Tabletten fehlen, durchsucht Micha den mit etwa hundert Verpackungen bespickten Medikamenten-Wagen (siehe Foto) und fügt die Tabletten hinzu. Ich bin baff, wie viele verschiedene Medikamente manch ein Patient bereits am Morgen zu sich nehmen muss. Micha befüllt noch ein paar Infusionen mit Kochsalzlösung mithilfe einer Spritze, während ich meine Freizeitkleidung gegen das typische Outfit der Pfleger, ein kurzärmliges, dunkelblaues Shirt mit V-Ausschnitt und eine gleichfarbige Hose, austausche (siehe Foto unten links). Schnell noch die Hände desinfizieren und die Visite kann beginnen.

Halb 8. Auf dem Stationsflur wuselt es eifrig. Micha hat bei der ersten Visite sieben Patienten. Er spricht mit ihnen über ihr persönliches Befinden und misst währenddessen den Blutdruck, den Puls und die Temperatur. Manchen gibt er auch gleich eine neue Infusion. Beim ersten Patienten, einem älteren Herren, versucht er, besonders einfühlsam und vorsichtig vorzugehen. Wieso, das zeigt sich während der Überprüfung des Blutdrucks, als der ältere Herr plötzlich panisch wird und aus voller Lunge um Hilfe brüllt. Ich erschrecke und frage blitzschnell bei Micha nach, was denn los sei. „Der Mann ist schwer dement und weiß oft gar nicht, wo er ist und erst recht nicht, wer ich bin.“ Er kennt den Mann, deshalb ist er ganz ruhig geblieben und hat den Patienten schnell wieder beruhigen können. Bei den nächsten beiden Patienten mittleren Alters verläuft alles reibungslos, die Vitalzeichen werden überprüft und dann geht es ins Nebenzimmer zu den nächsten beiden Patienten.

Sicherheitsvorkehrung!

„In diesem Zimmer ist ein Krankenhauskeim. Wir müssen uns weitere Schutzkleidung anziehen“, sagt mein Kumpel, noch ehe ich das Schild an der Tür sehe. Einweghandschuhe, Mundschutz und bei Körperkontakt eine grüne Schürze und Kopfhaube. Mit Mundschutz und Handschuhen komme ich mir schon ein bisschen wie der Onkel Doc vor (siehe Foto).

Im Zimmer angekommen, überprüft Micha die Vitalzeichen bei beiden Patientinnen, dazu erhält die ältere noch eine Spritze und bei der jüngeren wird der Blutzuckerspiegel gemessen. Noch ein kurzer, netter Plausch mit den beiden, und schon geht es weiter, wiederum ins Nebenzimmer. Die letzten beiden Patientinnen warten. Vitalzeichen, Diabetes-Messung. Fertig.

5 nach 8. Im Anschluss an die Visite wird von zwei Aushilfskräften das Frühstück ausgeteilt. Es herrscht Chaos und Enge auf dem Flur, da die großen Essenswagen der Damen sehr viel Platz wegnehmen. Micha kümmert sich währenddessen rührend um eine ältere, körperlich sehr schwache Patientin und füttert sie mit ihrem Joghurt. Einem weiteren bettlägerigen Patienten hilft er beim Aufstehen und Hinsetzen in den Rollstuhl. Der an Inkontinenz leidende Herr hat sein Bett eingenässt. Das ist zwar bei den wasserabweisenden Spezialmatratzen nicht weiter schlimm. Beseitigen muss Micha das Malheur trotz alledem. Aber auch das macht ihm nicht weiter zu schaffen. „Ich bin Schlimmeres gewöhnt“, sagt er grinsend. Sein herzlicher und immerzu freundlicher Umgang mit den Patienten gefällt mir sehr. Eine Kollegin bittet ihn um Hilfe bei einem Patienten, der ebenfalls aus dem Bett in den Stuhl gehievt werden muss. Schnell geht er ihr zur Hand und schon kann der Patient im Sitzen frühstücken.
9:00 Uhr. Jetzt erst einmal eine halbstündige Verschnaufpause. Zeit, ein paar Happen zu essen. Wenig später ruft die Arbeit schon wieder. Wir erfahren, dass der stark demente Patient wieder in Richtung Altersdomizil entlassen werden soll.

Micha in Aktion

Doch davor muss er noch von Micha und einer Kollegin gewaschen und geölt werden. Ekel und Berührungsängste sind als Pfleger völlig fehl am Platz. Die Nähe zu den Patienten gehört ganz einfach dazu. „Wenn mir das was ausmachen würde, wär‘ ich hier falsch“, bestätigt mein Kumpel. Auch das Anziehen gestaltet sich bei bettlägerigen Patienten als ziemlich schwierig. Nachdem die Krankenhauskleider gegen ein Hemd und eine Hose eingetauscht wurden, bekommt der Abholdienst des Mannes den Entlassungsbrief sowie weitere Medikamente überreicht und der Patient noch einen weiteren Tropf.  Zwei weitere Patienten dürfen auch nach Hause, same procedure, Waschen und Ölen, ab die Post.
Anschließend ist der Papierkram an der Tagesordnung. Die Pfleger dokumentieren aufs Genaueste, wie welcher Patient gepflegt wurde, um bei einem weiteren Aufenthalt in der Station Fehler in der Medikation, der Behandlung und der Logistik so gut wie möglich zu vermeiden. Aber hin und wieder passieren im Stress und der Hektik des Krankenhausalltags einfach Fehler. So wie an diesem Tag, als dem dementen Mann unnötigerweise kurz vor der Entlassung der Katheter gezogen wurde. Die unangenehme Prozedur der Neulegung musste er wieder  über sich ergehen lassen.
13:10 Uhr, Endspurt der Frühschicht. Micha arbeitet die Visite der Ärzte aus und überträgt die Veränderungen in der Behandlung in die Krankenakte. Kurz darauf hat er ein Aufnahmegespräch mit einem älteren Ehepaar. Zahlreiche Fragen müssen geklärt werden, beispielsweise Grad der Selbstständigkeit, Mobilität und Pflegestufe, Gesundheitsstand, Allergien und vieles mehr. Nach dem Fragenkatalog folgt die Blutabnahme in vier verschiedene Röhrchen, um die Blutparameter zu ermitteln. Anschließend werden die beiden ins Computersystem aufgenommen.
14:10 Uhr. Zu guter Letzt folgt ein Übergabegespräch zwischen der Früh- und der Spätschicht, in welchem die neuen Patienten und der momentane Krankheitszustand der alten besprochen werden. Dann ist es geschafft.

Mein Fazit: Krankenpfleger/Krankenschwester ist ein ziemlich stressiger und sowohl physisch als auch psychisch anstrengender Beruf, in welchem man nicht zu zart besaitet sein darf und eine gewisse Abgeklärtheit an den Tag legen muss. Außerdem sollte man keinen Ekel und keine Berührungsängste haben, da körperlicher Kontakt mit den Patienten an der Tagesordnung steht. Ich persönlich könnte diesen Beruf wohl nicht ausführen,  weil mich das Leid der Patienten sehr mitnehmen würde. Ich glaube, dass man für diesen Beruf ein Stück weit geschaffen sein muss. Nur, wem das Pflegen wirklich Freude und Erfüllung bereitet und wer trotz der Nähe zu den Patienten genug Distanz zum Geschehen wahren kann, wird auch damit glücklich. Wie mein Kumpel.
Fotos und Text: Marcel